Die Frage nach der möglichst „besten“ Kindererziehung ist für mich derzeit besonders aktuell, weil ich selbst bald Papa werde (wenn alles gut geht). Ich kann selbstverständlich nicht alles richtig machen, möchte aber möglichst gut informiert sein und insbesondere keine vermeidbaren Fehler machen. Kürzlich bin ich in diesem Zusammenhang auf das Thema „Trauma der Geburt“ und somit auf die Theorie der „4 Lebensanschauungen“ aus der Transaktionsanalyse gestossen. Derzeit wird das Thema „Trauma der Geburt“ ausserdem bei der Diskussion um den sogenannten „Wundergriff“ für schreiende Babys erwähnt (mehr dazu finden Sie hier).
Während meiner eigenen Kindheit in der 60er Jahren stand die Kindererziehung noch unter dem Leitgedanken einer möglichst schnellen emotionalen Unabhängigkeit der Kinder von den Eltern. Das „Trauma der Geburt“ bzw. seine Verarbeitung spielte meist weniger eine Rolle. Das bedeutete z.B., dass kleine Kinder möglichst schnell im eigenen Bettchen schlafen mussten (auch wenn sie weinten) oder schrittweise weniger auf den Arm genommen wurden, um sie nicht zu sehr zu verwöhnen (Stichwort: bloß keine kleinen „Prinzen“ und „Prinzessinnen“ heranziehen). Viele Eltern haben sich schon damals nicht sehr wohl mit der erzwungenen Distanz gefühlt und es gab auch bereits Erkenntnisse aus der Forschung, dass eine allzu frühe Abnabelung von den Eltern nicht gut für die spätere Entwicklung sein könnte. Aber damals war das die gängige Meinung von Ärzten und Psychologen und außerdem entsprach es dem Zeitgeist.
Das Trauma der Geburt verarbeiten
Wie wichtig Zuwendung für die Entwicklung des Kindes ist, haben Thomas Harris und Eric Berne im Rahmen ihrer Transaktionsanalyse beschrieben. Ich finde die Ansätze sehr interessant und meine eigenen Beobachtungen unterstützen einige Thesen der Transaktionsanalyse. Vielleicht könnten die folgenden Beschreibungen von Teilen dieser Theorie Ihnen auch einen Denkanstoß geben?
Ausgangspunkt der Theorie ist das „Trauma der Geburt“ wo das Baby einen ersten Eindruck von der „Welt da draußen“ bekommt. Plötzlich wird es hell, kalt und laut für den Säugling. Vorher war es doch noch schön mollig warm, und gemütlich in Mamas Bauch! So wird das Erlebnis der Geburt nach Berne und Harris zum ersten Trauma für den Säugling.
Im Geburtsvorbereitungskurs habe ich gelernt dass man heute in den Geburtskliniken möglichst schnell unmittelbaren -, körperlichen Kontakt des Neugeborenen zur Mutter und (neuerdings) auch zum Vater herstellt. Dieses sogenannte „Bonding“ soll dem Kind zeigen, dass es nicht alleine und abgeschnitten ist, sondern umsorgt ist und geliebt wird. Nach Erkenntnissen der Mediziner wird dabei vermehrt das Bindungshormon „Oxytocin“ ausgeschüttet und sorgt so für eine enge Bindung der Eltern zu ihrem Kind.
Die Theorie der „4 Lebensanschauungen“
Berne und Harris gingen also vom problematischen Start des Säuglings durch die traumatischen Geburtssituation aus und beobachteten anschließend, wie sich die Kinder bei unterschiedlich intensiver Zuwendung („Strokes“) durch die Bezugspersonen entwickelten. Dabei stützten sie sich u.a. auf klinische – sowie praktische Beobachtungen und entwickelten so die Theorie der sogenannten „4 Lebensanschauungen“:
- Ich bin nicht OK – Du bist OK
- Ich bin nicht OK – Du bist nicht OK
- Ich bin OK – Du bist nicht OK
- Ich bin OK – Du bist OK
Die erste ist die wahrscheinlich am häufigsten auftretende Lebensanschauung. Diese entsteht nach Ansicht der Transaktionsanalyse aus der Erfahrung des Kindes, dass sich das Alleinsein nicht gut anfühlt. Aus dieser Anschauung entwickeln sich gemäß Berne und Harris unterschiedliche „Lebens-Drehbücher“. Auf der einen Seite ziehen sich Menschen mit dieser Lebensanschauung zurück, denn zu viele „OK-Menschen“ um einen herum können zu Unbehagen führen. Nach dem Motto: „Ich selbst fühle mich minderwertig, weil ich ja nicht OK bin.“ Auf der anderen Seite kann ein Gegendrehbuch entstehen. Eine solche Person braucht dann die Nähe zu Menschen mit starkem sogenannten „Eltern-Ich“. Nur diese „Ersatzeltern“ – so die Theorie – sind als OK-Menschen in der Lage die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Die zweite Lebensanschauung entsteht gemäß der Transaktionsanalyse, wenn das Kind mit sehr gefühlskalten Eltern aufgewachsen ist. In dem Moment wo das Kind selbständiger wird und z.B. laufen kann, wird es mehr oder weniger sich selbst überlassen. Strafen ersetzen die Geborgenheit körperlicher Nähe. Diese Menschen sind nach der Transaktionsanalyse später oft depressiv und neigen sogar zum Suizid.
Die dritte Lebensanschauung ist der Theorie zufolge auf häufige Gewalterfahrungen in der Kindheit zurückzuführen. Ist die Gewalteinwirkung vorüber und ist das Kind wieder alleine, geht es ihm besser. Berne und Harris beobachteten, dass Personen mit dieser Erfahrung oft kriminell, rücksichtslos und nicht empathisch sind.
Das Drehbuch unseres Lebens
Wie Berne und Harris betonten, gelangen wir zu den ersten drei Lebensanschauungen durch frühkindliche Erfahrungen. In dieser Phase des Lebens ist es nach der Transaktionsanalyse kaum möglich auf kritische Distanz zum Erlebten zu gehen und das eigene Gefühl bzw. Verhalten infrage zu stellen.
Als Erwachsene haben wir nach Ansicht von Berne und Harris jedoch grundsätzlich die Möglichkeit, diese unbewussten Prägungen zu erkennen und unsere Drehbücher in Richtung der vierten Lebensanschauung „Ich bin OK – Du bist OK“ umzuschreiben.
Nach der Transaktionsanalyse müssten wir uns dafür zuerst unser eigenes Programm bewusst machen und gleichzeitig positive Erlebnisse sammeln und diese bewusst dagegenstellen. Der von Berne und Harris eingeräumte Nachteil dabei ist, dass dies natürlich sehr viel Geduld und Zeit erfordert. Außerdem werden die negativen Erfahrungen aus der Kindheit nicht wirklich gelöscht.
Meine eigene Beobachtung bei Kindern von Freunden und Bekannten weisen darauf hin, dass sich Kinder, die in den ersten Lebensjahren sehr viel Aufmerksamkeit und körperliche Nähe bekommen haben, schneller und selbstbewusster bzw. weniger ängstlich entwickeln. Der Transaktionsanalyse zufolge würde sich auch die Lebensanschauung bzw. das Drehbuch des Lebens für diese Kinder entsprechend positiv entwickeln. Das müsste weiter beobachtet werden. Wer weiß das schon? Warten wir es ab! Vielleicht sind zu viele Zuwendungen auch wieder nicht gut für das Kind? Welche Anzahl von „Strokes“ sind wirklich gut für das Kind und was ist mit den Nerven der Eltern? Vielleicht lohnt es sich auch einmal bei sich selbst zu schauen und die eigene Lebensanschauung zu erkennen/verändern und das Drehbuch entsprechend umzuschreiben?