Ist Verletzlichkeit eine Schwäche oder eine Stärke?

Ist Verletzlichkeit eine Schwäche oder eine Stärke?

© De Vries

In letzter Zeit fällt mir immer wieder das Bild mit dem Finger ein, der auf andere Menschen und ihre vermeintlichen Schwächen beziehungsweise Fehler zeigt. Gleichzeitig zeigen drei Finger der gleichen Hand auf uns selbst (probieren Sie es aus). Man kann es auch bei sich selbst beobachten, wenn man wirklich ehrlich zu sich selbst ist. Den Fehler beim anderen zu brandmarken ist oft ein Hinweis auf eigene unterdrückte Unsicherheiten und Scham. Ein anderer bildhafter Spruch in diesem Zusammenhang aus der Lutherbibel besagt: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“ Das ist schon wirklich kompliziert mit der menschlichen Psyche. Auf der einen Seite möchten wir so akzeptiert werden wie wir sind (mit all unseren Fehlern, Ängsten und Zweifeln) und auf der anderen Seite versuchen wir alles, um uns nicht wirklich in all unserer Verletzlichkeit zu zeigen. Aber warum ist es so schwierig, Verletzlichkeit zu zeigen und diese bei anderen auch zu akzeptieren?

Der Schutzpanzer sagt viel über seinen Träger

Dazu hat Brené Brown, eine amerikanische Wissenschaftlerin, Studien durchgeführt (mehr dazu finden Sie hier). Sie fand heraus, dass es gesellschaftlich negativ aufgefasst wird Verletzbarkeit offen zu zeigen und mit Schwäche gleich gesetzt wird. Also versucht man sich einen Schutzpanzer zuzulegen. Wenn nun zwei Menschen aufeinander treffen, begegnen sich im Grunde nur die äußeren Schutzmechanismen. Um eventuelle Gefahren für die eigene Verletzbarkeit abzuwenden, versuchen darüber hinaus beide, wie in einer Art Wettkampf, die Schwächen im Panzer des anderen ausfindig zu machen. Schlecht über andere Personen zu sprechen (gewissermaßen verbal mit dem Zeigefinger auf diese Menschen zu zeigen) gehört zu den am meisten geläufigen Schutzmechanismen. Das wiederum sagt sehr viel über die Lästerer. Denn je mehr jemand lästert, desto größer ist seine Angst „gesehen zu werden“ und somit auch der Schutzbedarf.

Sei mutiger!

Brown fordert in ihren Statements auf, mutig zu sein und Verletzbarkeit offen zu zeigen. Etwas zu wagen und aus der vermeintlich sicheren Komfortzone heraustreten kann auch bedeuten in Konfrontation zu geraten. Die eigenen Grenzen anzuerkennen und auch mal „Nein“ zu sagen, wenn damit eine Überlastung droht, ist nicht immer einfach in einer leistungsbezogenen Gesellschaft.

Der Weg zum glücklichen Selbst

Das aber ist es nach Meinung von Brown wert. Denn nach ihrer Erkenntnis ist Verletzbarkeit der Weg zum glücklichen Selbst beziehungsweise zu einem erfüllteren Leben. Zu mehr von dem was sich im Grunde alle Menschen wünschten und was uns glücklich macht wie „Freude, Intimität, Liebe, das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen“.

Verletzbarkeit ist eine Stärke

In diesem Sinne ist das Verständnis der Gesellschaft von Verletzbarkeit als Schwäche völlig falsch. Nach Meinung von Brown ist Verletzbarkeit zu zeigen genau das Gegenteil, nämlich Stärke. Es erfordert nämlich oft Mut, etwas zu riskieren – beispielsweise, sich zu blamieren wenn man eine vermeintlich dumme Frage stellt. Diesen Mut immer wieder erfolgreich aufzubringen, macht wiederum wieder mutiger. Mut zu haben ist gewiss eine Stärke.

Scham überwinden

Unser stärkster Gegner ist dabei nach Ansicht von Brown unsere Scham und das damit verbundene Verlangen anderen immer zu gefallen. Nach Brown ist das Schamgefühl in unserer modernen Gesellschaft – trotz aller Gelegenheiten zum Fremdschämen beispielsweise im TV – stärker geworden (mehr dazu finden Sie hier). Ein Grund dafür meint Brown in den gestiegenen Anforderungen an ein idealisiertes perfektes Leben zu erkennen.

Unterschiedliche Schamgefühle

Es ist gewiss eine Gradwanderung zwischen gesundem Schamgefühl, welches vor Schamlosigkeit bewahrt, und der befreienden Überwindung der einengenden Schutzmechanismen zu unterscheiden. Vielleicht könnte man damit beginnen, sich weniger hinter dem eigenen Zeigefinger zu verstecken!?

Kennen Sie Menschen, die häufig über andere Personen lästern? Welche Schutzmechanismen haben Sie bei sich selbst entdeckt, um Ihre Verletzbarkeit zu verstecken? Sind Sie auch der Meinung, dass Verletzbarkeit zu zeigen eine Stärke ist?