Kann ein bedingungsloses Grundeinkommen den Sozialstaat nachhaltig regenerieren?
Das Krisenmanagement in Zeiten der Corona-Pandemie bringt Lösungswege hervor, die noch kurz zuvor utopisch erschienen. Milliarden werden kurzerhand locker gemacht, um die Wirtschaft zu stützen. Mietzahlungen sollen zwei Jahre aufgeschoben, Kredite fürs Eigenheim drei Monate gestundet werden können. Dies verhindert akut, dass Leute plötzlich auf der Straße stehen, doch diese Schulden gilt es ja dann trotzdem abzustottern. Wie soll das gut weitergehen für die, die es betrifft – in Kurzarbeit, ohne Job?
Für mich, die sich gerade wieder selbstständig gemacht hat, wäre Schuldenmachen absolut kontraproduktiv – ich brauche das Gefühl den Rücken frei zu haben, um bei meiner Arbeit, die ich liebe, mein Bestes geben zu können. Selbst das Krisengrundeinkommen für sechs Monate, was derzeit hunderttausende Bürger in einer Petition vom Staat fordern, scheint mir da noch zu kurz gegriffen. Warum nicht gerade jetzt noch einen Schritt weiter gehen und die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens konsequent umsetzen, wenn man schon bereit ist, viel Geld in die Hand zu nehmen? Könnte das nicht nachhaltiger wirken?
Klar, polarisiert diese Idee seit jeher, allen bedingungslos den Teil des Einkommens zu gewähren, den man unbedingt zum Leben braucht. Die deutsche Debatte über ein Grundeinkommen und das Umgestalten des Sozialstaats läuft seit der Hartz-IV-Reform. dm-Chef Götz Werner ist einer der Promis, die sich seither mit anderen Unternehmern, Ökonomen und Politikern dafür stark machen.
Als EU-Korrespondentin habe ich mal 2012 mit dem Brüsseler Wirtschafts- und Sozialethiker Philippe Van Parijs darüber gesprochen. Als einer der ersten Vordenker formulierte er seine Idee des bedingungslosen Grundeinkommens aus dem Jahr 1982 in seinem Buch „Real Freedom for All“, das er 1995 rausbrachte.
Wie so ein Bürgereinkommen ihm nach aussehen könnte? Individuell: Jeder Bürger, von Geburt an bis zur Bahre, egal ob erwerbstätig oder nicht. Und es mindert sich nicht durch andere Einkommen oder Beihilfen. Es bleibt ein verlässlicher Lebensgrundstock. Für gebildete Menschen mit guten Jobs würde es kaum einen Unterschied machen. Die positive Wirkung wäre vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten zu merken, so Parijs. Jeder bekommt den vollen Betrag, selbst wenn er mit jemanden zusammenlebt. Das fördert zwischenmenschliches Gefüge. Ich persönlich kenne dagegen die Situation aus dem derzeitigen Sozialsystem in Belgien, dass man es sich zweimal überlegt, ob man wirklich zusammenzieht, wenn dann die Sozialhilfe des einen schrumpft.
Die Gesellschaft würde profitieren, erklärt der Wirtschaftsethiker: Mit einem gesicherten Grundeinkommen seien die Menschen nicht von Arbeit abhängig, die sie kaputt macht oder ihnen keine wirkliche Perspektive bietet. Statt die Füße still zu halten, da jeder dazuverdiente Euro von der Sozialhilfe abgezogen wird, könnte einer sich in Praktika und Fortbildungsprogrammen weiterentwickeln und gering bezahlten Jobs nachgehen, die ihn interessieren. So würde ein Sozialstaat von innen heraus aktiviert.
Philippe Van Parjis geht dabei vom natürlichen Antrieb eines jeden aus, kreativ und schaffenswillig zu sein. Man brauche bloß Entlastung von der Existenzangst.
Arbeitssuchende hätten den Rücken frei, um die passende Arbeit zu finden. Laut Van Parijs gut auch für die Wirtschaft: Wer seinen Job mag, ist produktiver. „Natürlich will ich niemanden ermutigen sein ganzes Leben lang keiner bezahlten Arbeit nachzugehen“, stellt Van Parijs klar. Vielmehr solle die freie Zeit während der Arbeitssuche der Gesellschaft zugutekommen: Freiwilliges Engagement, politisch aktiv sein, Kunst. Gutes für die unmittelbare Gemeinschaft und Nachbarschaft.
Klingt diese Möglichkeit nicht, als könnten wir damit nachhaltig in die Entfaltung des Potenzials jedes Einzelnen investieren? In Zeiten, in denen so viel Undenkbares, jetzt machbar wird, ist der Moment nicht reif, eine Regeneration des Systems auf neue Weise zu wagen? Von innen heraus aktivierend? Jedem zutrauend das Beste für die Gemeinschaft zu geben, wenn er seine Existenzgrundlage gesichert weiß?
Geschichte der Idee: Philippe Van Parijs ist nicht der „Erfinder“ des bedingungslosen Grundeinkommens. Als einer der ersten Verfechter gilt der Belgier Joseph Charlier. Als Karl Marx im Jahr 1848 in Brüssel sein Kommunistisches Manifest verfasste, schrieb Charlier zur gleichen Zeit an „Der Lösung der sozialen Probleme“. Demnach sei jeder Bürger ursprünglich Miteigentümer seines Staatsgebietes. Die Behörden müssten ihm daher einen Betrag zahlen, der dem Bodenertrag seines Anteiles entspricht. Allerdings wurde Charlier seinerzeit nicht groß wahrgenommen. Danach kam die Idee in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Namen und Formen auf. In Alaska und dem Iran wird es mittlerweile praktiziert. In Deutschland ist die Debatte seit der Hartz- IV-Reform aufgeflammt. Seit 1986 gibt es das europäische Netzwerk BIEN, dass sich mittlerweile weltweit aufgestellt ist und auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz seine Ableger hat. Alle zwei Jahre gibt es eine internationale Konferenz.
Weitere Infos unter www.grundeinkommen.de und www.basicincome.org