Gestern vorm Haus sehe ich von weitem ein kleines hellgraues Etwas mitten auf dem Gehweg. Beim Näherkommen erkenne ich eine Minimeise. So klein, wie eine Mozartkugel. Mit Federkleid und allem Drum und Dran, bloß eben noch miniklein und ohne Flugerfahrung. Oh mein Gott, wie süß ist die denn? Sie sitzt einfach da aufgeplustert und genießt sichtlich die wärmende Sonne. Meine Anwesenheit stört sie überhaupt nicht.
Doch wo kommt die her? Oh nein, das Meisenkind ist sicher aus dem Nest gefallen und nun total hilf- und schutzlos … was nun? Für einen kurzen Moment sehe ich mich schon mehrmals täglich Mehlwürmer in den Nimmersatt hineinstopfen, weil ich ihn gefunden habe und mich nun verantwortlich fühle. Dann fällt mein Blick auf den Nistkasten im nahen Baum, in dem gerade eine erwachsene Meise Einflug hält. Oh, Glück gehabt. Ich muss bloß eine Leiter holen und den Jungvogel zurück in sein Nest stopfen, glaube ich…
Zum Glück habe ich dann doch mal Gabi um Rat gefragt, die mit den Gepflogenheiten der gefiederten Bewohner hier in der Wohnanlage Erfahrung hat: „Einfach lassen… Die Mutter füttert es schon. Das ist jedes Frühjahr so.“ „Echt? und wenn eine Katze kommt?“ Gabi: „…Ja….“
Eine halbe Stunde später komme ich wieder und es hocken zwei Meisenkinder auf dem Weg. Ich erkenne jetzt, das hat System: Ein Meisenelternteil lotst die gerade aus dem Nistkasten gehüpfte Brut in die nahen Sträucher. Indem sie immer wieder tschilpend zwischen Ziel und Nachwuchs hin und her fliegt.
Diese Umzugsaktion mag mir persönlich vielleicht zu langsam gehen, in Anbetracht der Rollatoren, die hier regelmäßig entlanggeschoben werden. Doch die Kleinen nehmen sich Zeit. Jeder in seinem Tempo. Der eine hockt noch ein bisschen im Sonnenschein und blinzelt genüsslich. Während der andere schon durch den Maschendrahtzaun in sichere Gefilde hüpft.
Ein Glück, dass ich keinen zurück in den Nistkasten gestopft hatte. Das wäre ja voll peinlich gewesen, ich hätte alles durcheinander gebracht… Und alle Vögel so mit Augenrollen: … oh, nein, die hat wohl `ne Meise. Jetzt muss der Kleine nochmal aus drei Metern Höhe aus dem Nest springen…
Ich realisiere: mich raushalten ist angesagt. Nicht immer die leichteste Übung… Nicht ungefragt eingreifen. Dem anderen zutrauen, dass er seine Erfahrungen macht und seinen eigenen Weg findet – egal, wie zerbrechlich er mir gerade erscheint und welche scheinbar tollen Lösungen mir aus meinem Weltbild zu seiner Situation einfallen.
Meine Welt ist nicht deine Welt – auch ein essentielles Thema der ersten Ausbildungseinheit Systemisches Coaching, Kommunikation und Konfliktmanagement am 19. – 21. Juni 2020. Es sind noch Plätze frei!
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