Kürzlich bei der Fußballübertragung zur Euro 2016: Mehmet Scholl poltert gegen die sportlich Verantwortlichen des DFB (mehr dazu finden Sie hier). Ich habe das auch live im TV gesehen und sofort gedacht: „Oje, das wird Folgen haben …“ Nun kann man überall in den Medien lesen, dass sich Scholl bei den Zuschauern und natürlich bei den von ihm Gescholtenen für seine Worte entschuldigt hat. Das ist wahrscheinlich die Folge der massiven öffentlichen Kritik an seiner Kritik. Als Erklärung bzw. als Entschuldigung für seinen Auftritt sagte er, er habe „Gehirnschluckauf“ gehabt.
Stirnlappen ist zuständig für Affektkontrolle
Für einige Neurowissenschaftler ist das ein recht kreativer Ausdruck für den wissenschaftlich erforschten emotionalen Kontrollverlust. Hirnforscher kennen dieses Phänomen und sprechen von den Zuständen, wo die Affektkontrolle und somit der dafür zuständige Teil des Hirns – nämlich der Stirnlappen – kurzzeitig aussetzt (mehr dazu finden Sie hier). Das innere Stopp-Signal funktioniert plötzlich nicht mehr und die Emotionen bahnen sich unkontrolliert ihren Weg.
Situationen für Kontrollverlust
Besonders in emotional aufgeladenen Situationen, wie beispielsweise beim Fußball kann es daher sehr häufig zu diesen Stirnlappen-Versagen kommen. Aber auch in scheinbar wenig emotional aufgeladenen Umgebungen kann es zu einem Verlust der Affektkontrolle kommen. Wer kennt nicht solche Situationen? Wir erleben sie täglich am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr oder auf der Behörde. Manchmal reicht ein Funke und die Bombe geht hoch. Aus dem höflich distanzierten Kollegen wird scheinbar aus dem Nichts ein „HB-Männchen“.
Affekte wichtig zum Überleben
Diese stark impulsgesteuerten Reaktionen in Stress-Situationen sind nach Ansicht von Neurologen ein entwicklungsgeschichtliches Überbleibsel aus der Urzeit des Menschen. Als unser Stirnlappen noch nicht so entwickelt war wie beim modernen Menschen und demnach noch nicht das (teilweise) Kommando über die Emotionen übernehmen konnte, waren die Reaktionen überwiegend instinktiv und spontan motiviert. Das macht in einer sehr gefährlichen Umgebung mit vielen Fressfeinden durchaus Sinn. Allerdings erschwert es das Zusammenleben in einer Gruppe und planerisches Handeln. Mit den sozialen Strukturen und um sich noch besser an sich wandelende Lebensbedingungen anpassen zu können, bot die Fähigkeit des analytischen – und rationalen Handelns gewisse evolutionäre Vorteile. Entwicklungsbiologen sind daher der Meinung, dass sich vor allem deshalb der Stirnlappen beim modernen Menschen evolutionäre durchgesetzt hat.
Nachteile der Affektkontrolle
Allerdings gibt es auch hier nachteilige Aspekte. Aufgrund einer sehr starken Steuerung der Affekte kann es beispielsweise zu einem Verlust an Gefühlsintensität kommen (mehr dazu finden Sie hier). Zu viele Wutanfälle (mehr als vier pro Jahr) weisen nach Ansicht einiger Psychologen auf verminderte Affektkontrolle und somit auf eine psychische Störung hin.
Ausgeglichenheit als Zeichen von Reife
Mancher Verlust emotionaler Kontrolle wird aber auch als angenehm empfunden. So ist das Verliebt-sein ein von viele Menschen ersehnter affektiver Kontrollverlust. Allerdings ist auch dieser Hochzustand nur von begrenzter Dauer. Emotionen wechseln sehr schnell ihre Intensität und Richtung. Mit emotionalen Schwankungen gut umgehen zu können, d.h. weder Emotionen zu unterdrücken noch ihnen ausgeliefert zu sein, charakterisiert einen reifen Menschen mit hoher sozialer Intelligenz. Diese Ausgeglichenheit herzustellen erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion. In Coachings und Seminaren zum Konfliktmanagement kann man beispielsweise sehr viel über eigene Konfliktmuster bzw. über den Umgang mit Aggressionen lernen. Der Gehirnschluckauf ist dann nur noch eine mögliche Handlungsalternative und kein unausweichlicher Affekt mehr.
Wie oft verlieren Sie die Kontrolle über ihre Gefühle? Was sind Ihrer Meinung nach die Vor- bzw. Nachteile der Affektkontrolle?